Schere & Kleber

Die arbeitende Mutter sitzt zu Hause mit Kind, Kopiervorlagen, Schere und Kleber – die ausgefüllten Aufgabenblätter müssen nach Komplettierung in das vorgegebene Schulheft eingeklebt werden. Die Kommunikation mit der Schule beschränkt sich auf einen am vorläufig letzten Schultag verteilten Brief (der recht spontan um 2 Tage vor verschoben wurde), einem Paket von kopierten Arbeitsaufträgen, die sechs Wochen überbrücken sollen, und eine Handvoll Rückmeldungen zu eingesendeten Hausübungen. In der Woche vor Wiederbeginn der Teilzeitschule kommt ein weiterer Brief aus der Schule. Dazwischen Informationsdürre.

Gleich hat sie ein Telefonat mit einer Kollegin, ebenfalls arbeitende Mutter, deren Tochter natürlich auch zu Hause Schule macht. Dieses Home-Schooling-Kind arbeitet am Laptop, hat eine digitale to-do-Liste, tägliche Videokonferenzen mit den Lehrer*innen und lange Arbeitsaufträge. Im Home-Schooling-Haushalt Nummer 2 arbeiten beide Eltern im Moment von zu Hause aus und stehen der Schülerin bei Fragen zur Seite, genauso wie der Medizin-studierende Bruder, der gerade in der Home-Uni ist. Sie hat somit drei „Unterstützungslehrer*innen“ plus die tatsächlichen Lehrer*innen per online Unterricht. Täglich. Plus Emails mit Informationen. Täglich. Fast schon eine Überversorgung und Informationsüberschwemmung.

Zwei Home-Schooling-Haushalte …. der eine arbeitet mit Schere und Kleber, der andere mit cut & paste. Crtl x & Crtl v. Beide Kinder werden aus dieser Zeit mit viel neuem Wissen herauskommen, werden viel gelernt haben, werden sich unterstützt fühlen, weil ihr Umfeld so funktioniert. Ihre Klassenkamerad*innen haben nicht alle Medizin-studierende Geschwister, Eltern, die Anleitungen in Deutsch, Englisch oder Mathe verstehen, die im Home Office sind und sich die Zeit nehmen. Wie sieht es in Haushalten aus, in denen die Eltern nicht so viel Unterstützung anbieten können? Haben sie eine Schere? Kennen sie die Tastenkombination Crtl x? Wissen sie, wo das Blatt einzufügen ist? In welchem Heft? Mit welchem Kleb? Sind sie überfordert von der elektronischen Schule? Verstehen sie, bemerken sie, dass sie von der Schule kaum etwas hören? Verstehen sie, bemerken sie die Emails, die Informationsflut, die in ihrer Inbox landen?

Die Schere ist ein wichtiges Werkzeug, der Computer auch. Das eine kann das andere nicht ersetzen, eine Kombination ist dienlich. Ein Kopieren von Inhalten, Unterrichtsmaterialien und Methoden aus der Steinzeit mit Fotokopierer oder Computer und blindes wieder Einkleben weniger. Schon gar nicht in der Home-Schooling Zeit. Eine Digitalisierung der Digitalisierung wegen ebenso wenig. Schon gar nicht in der Home-Schooling Zeit.

Das nicht eingeklebtes Blatt, die nicht erledigte Zusatzaufgabe, der nicht gemailte Aufsatz werden die Zukunft keines einzigen Kindes beeinflussen. Die Reaktion wichtiger Bezugspersonen auf das nicht-Einkleben, das nicht-Erledigen, das nicht-Mailen schon. Genauso wie das nicht geführte Gespräch, die Überhäufung mit Informationen oder Aufgaben, die nicht immer funktionierenden digitalen Plattformen, das fehlende Feedback, die in leeren Schulgängen abgestellten PCs. Sie führen zum Aufmachen der Bildungs-Schere.

Analog UND digital.
Schere UND Crtl x.
Kleb UND Crtl v.
Lehrer*innen UND Schüler*innen und Familien.
Gemeinsam.

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