Sie hat sich einen Gartenzaun zugelegt und mit eigenen Händen und der Hilfe des Onkels errichtet. Er steht ein bisschen windschief, der Zaun, und verläuft nicht perfekt entlang der Grundstücksgrenze, aber gerade das ist sein Charme. Er sollte ihr Grundstück definieren, das Bild des Hauses abrunden. Ein Durchgang zum hinteren Teil des Gartens war Teil des Plans, auch wenn es so ausschauen mag, als sei der Zaun einfach zu kurz geraten, nicht ganz perfekt. Trotz klarer Definition der Grenze sollte er einladend sein. Gäste sollten Zugang haben, sich eingeladen fühlen. Die Postbotin versteht die Funktion dieses imaginären Hintertürchens, sie verwendet es täglich auf ihrer Route Richtung Nachbarhaus.
Früher hat sie es nicht verstanden, wie Menschen ohne Gartenzaun leben können. Eine offene Haltung zum Gegenüber, eine stets offene Tür sind ihr sehr wichtig, die Ruhe in ihren eigenen vier Wänden auch. Dann dachte sie an den Rasen ihrer Eltern, der fließend in die Gärten der Nachbarn übergeht. Auf einer Seite funktioniert das wunderbar, man genießt die nicht sichtbare Grenzüberschreitung täglich. Zum anderen Nachbarn hin ergibt sich ein anderes Bild. Sein Unkraut- und Mähfrequenzstandard ist ein anderer, die wöchentliche Rasenmähaktion involviert die Verwendung von Linealen und einer Schublehre. Inzwischen erledigt ein Roboter die Arbeit – genau bis zur Grenze.
Ihr Gartenzaun war niemals dafür gedacht, andere vom Haus fernzuhalten. Nun hat er Mitte März 2020 eine zusätzliche Funktion bekommen, wie so manch anderes auch. Schals wurden zu Masken umfunktioniert, Eltern zu Lehrern, Straßen zu Spielplätzen, Gartenzäume zu Mahnpfosten oder Hilfsmitteln für die so oft zitierte physische Distanzierung. Er ist wie geschaffen dafür, ihr Gartenzaun, und erinnerte daran, was man darf und was nicht. Er ist eine Barriere und doch lässt er zu, dass man eine Grenze überschreitet und sich in dieser Zeit fast schon wie ein Krimineller fühlte, weil man sich mit dem Nachbarn unterhielt.
Sie unternahm etwas mit Haushalts-fremden Personen, mit ihren Nachbarn. Sie redete mit ihnen und diese Konversationen hatten mehr positive Nebenwirkungen als auf einen Beipackzettel passen. Und so hatte der Gartenzaun eine neue Funktion bekommen: sozialer Treffpunkt auf privatem Grund – da konnten kurze Männer und ihre verschachtelten Kompagnons gar nicht dreinreden. Abstand wurde eingehalten, der Nachbar trug sogar manchmal eine Maske, weil er gerade am Bauen war. Die Treffen waren immer zufällig – also auch das war regelkonform. Obwohl sich alle ein kleines bisschen frech fühlten, wenn sie so dastanden und redeten, hielten sie doch alle Regeln ein und genossen die positiven Nebenwirkungen dieser Zeit.
Sie freut sich täglich über den schrägen, nicht ganz grad verlaufenden Gartenzaun und war stolz, dass er seine neue Funktion mit Bravour gemeistert hat.