Erlöse sie von aller Schuld

Plötzlich kommt man in ein Alter, in dem Beerdigungen der häufigste Grund für einen Kirchenbesuch sind, außer man schätzt den wöchentlichen pfarrerlichen Rat und geht in die Sonntagsmesse. Oder zum stillen Gebet, in die Frühmesse, den Rosenkranz, die Andacht, die Marienfeier etc. etc. Das Angebot ist reichhaltig, für jeden was dabei! Das verkündet der lokale Hirte seinen Schäfchen von einem riesigen Transparent herunter, das er prominent vor seinem Headquarter platziert hat. Gleich zwei davon, dass man es beim Vorbeifahren aus jeder  Himmelsrichtung sehen kann.

Hier sitzt sie nun, in der Kirche, weil die Mutter ihrer Tante gestorben ist. Nichts Alltägliches ist ein Kirchenbesuch für sie, nichts Allwöchentliches. Wenn es einen Anlass gibt, der sie in dieses Haus führt, dann meditiert sie, sortiert ihre Gedanken, genießt die Stille. Mitsingen und mitbeten geht, dank der vielen Stunden, die sie in ihren ersten 18 Jahren in genau diesen vier Wänden verbracht hat, im Autopilot.

Hier sitzt sie nun, in der Kirche, um gemeinsam mit der Tante und deren Familie Abschied zu nehmen, um sie auf dem Weg zu begleiten. Früher fand sie es komisch, wenn ihre Eltern regelmäßig auf Beerdigungen von Menschen „mussten“, deren Namen, Familienverhältnisse, Anzahl der Kinder, Böden und Haustiere am Vortag am Mittagstisch erklärt wurden, bis sie als Kinder vorgaben zu verstehen, von wem die Rede war. Jetzt versteht sie die Bedeutung des Begleitens, des Daseins für die Hinterlassenen, des Innehaltens und Erinnerns.

Hier sitzt sie also, in der Kirche, bei der Beerdigung von Frau K. Dem Pfarrer kann sie nur halb zuhören, seine Art und Rhetorik sind gewöhnungsbedürftig, aber für ihre persönlichen Befindlichkeiten ist hier und jetzt kein Platz. Die Verwandtschaftsverhältnisse in der Familie der Verstorbenen bekommt er in seiner Ansprache nicht ganz auf die Reihe.

Manche Trauergäste werden seine kleinen Fehler nicht mitbekommen, andere werden es ihm verzeihen – er hat ja mit so vielen Familien zu tun, kann sich doch  nicht alles merken. Sie wird durch seine Ungenauigkeit, durch seine Verallgemeinerung des Lebens dieser einzigartigen Frau, vom Meditieren abgelenkt und denkt sich: „Bei diesen persönlichen Details könntest du etwas besser aufpassen. Kannst dir doch merken, wie viele Enkel die verstorbene Frau K hatte, wie viele davon Mädchen, wie viele Jungs sind. Sonst schreib es dir halt auf!“ Noch versunken in diesen Gedanken hört sie, wie der Herr Pfarrer etwas zitiert, das man für ihn aufgeschrieben hatte, wofür er aber gar keine Notizen braucht: „befreie sie von ihrer Schuld“ Und mit diesen Worten ist sie völlig aus der Meditation gerissen, schreit den guten Hirten gedanklich fast an: „Wie bitte???? Das sind deine letzten Worte an sie? Die Frau ist tot! Welche Schuld? Warum kann die Kirche nicht einmal in diesem letzten, intimen Moment mit dieser verdammten Schuld aufhören. Plagt ihr nicht genug Lebende damit? Wir sollen anscheinend damit geboren werden, sie wird uns aber – Gott sei Dank – kurz vor dem Einbuddeln noch weggenommen. Wer nimmt sie? Die Nächstgeborenen?“

Sie denkt an die verstorbene Frau K und glaubt zu wissen, dass dies eine selbstlose, einfache Frau war, die nicht viel im Leben brauchte. Sie war für die Familie da, für ihren Mann, dem man nachsagt, dass er vielleicht in den Augen der Kirche nicht immer ganz so „unschuldig“ war. Das wiederum geht weder die (Pfarr)Gemeinde noch den Hirten auf der Kanzel was an. Nur ihn, den „Schuldigen“, und seine Frau(en). Seine Frau K. ging in die Kirche und betete und gegen Ende ihres Lebens vergaß sie recht viel. Ich nehme an, sollte sie vorher an etwas Schuld gehabt haben, dann hätte sie dies auch vergessen. Nicht absichtlich, sondern weil ihr Hirn nicht mehr anders konnte. Und dort sollte man es lassen, in den Tiefen von Frau K‘s Vergesslichkeit, und es ihr nicht als allerletzten Satz mit auf den Weg geben.

Lassen wir sie doch ruhen – in Frieden. AMEN

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