Selbstreflexion, lieber Basti!

Lieber Basti,

als gute Beraterin muss man immer wieder reflektieren, über das, was man gesagt und getan hat und auch über das, was jene sagen und tun, die man berät. Als deine Beraterin hab ich da recht viel zu tun. Du redest sehr gerne, auch wenn du nicht immer viel sagst. In der Flüchtlingssache hälst du dich jedoch kurz und bündig. Manche würden sagen, dass du in dieser Sache stur bist. Woher kommt das? Woher kommst DU?

Diese Flüchtlingsgeschichte, die droht grad vom Corona-Virus abzulenken. Jetzt musst dich wieder äußern. Da sitzen sie immer noch in Griechenland und zünden auch noch das Lager an. Dann zeigen sich die Deutschen christlich und sozial – woher das nur kommt, dieser menschliche Ansatz? – und dann musst natürlich reagieren. Klar musst das. Lass uns mal darüber nachdenken und vielleicht auch ein wenig die Geschichte, deine Geschichte aufrollen.

Also, du hast reagiert, ich habe reflektiert. Du möchtest den Menschen vor Ort helfen und keine weiteren Flüchtlinge ins Land lassen. Oder sollen wir sie lieber Migranten nennen? Ist nicht ganz so emotional. Was wäre das sonst für eine Botschaft an diese Migranten? Dann würden sie ja alle kommen. Ist nicht deine Oma auch einmal umgezogen – ich mein nicht innerhalb von Niederösterreich, da war sie recht sesshaft auf ihrem Hof. Nein, aus dem Ausland ist sie gekommen, mit 16. Sie lief den ganzen Weg durch Ungarn und die Slowakei bis nach Österreich – das muss eine grausame Wanderung gewesen sein. Wie es ihr wohl ergangen ist, als sie endlich angekommen war? Deine Mutter spricht noch immer von grausamen Bildern, von Toten in Straßengräben, zeigt Mitgefühl für ihre Mutter, obwohl sie es selbst nicht miterlebt hat, nur aus Erzählungen kennt. Sie meint, es wäre in den Genen verankert. Hat deine Mutter die (Gen)Route zugemacht, dich davor bewahrt, dass du diese Bilder auch in dir trägst? Stell dir vor, die Oma wäre damals an der Grenze auf einen Basti getroffen, oder seine Jünger, und hätte nicht nach Österreich einreisen dürfen. Dann wärst jetzt nicht Chef und wir zwei würden uns jetzt gar nicht kennen!

Natürlich gibt es einen Unterschied zwischen der Generation deiner Großmutter und der, der jetzigen Flüchtlinge. Ihre Generation hat ein Leben lang etwas fürs Land geleistet, war fleißig, hat ins System eingezahlt. Aber wahrscheinlich hatte sie als mit 16 Jahren in Österreich Ankommende auch noch nicht gemacht, sondern eher danach? Wie sieht es mit der 16-Jährigen aus, die jetzt in Moria feststeckt? Könnte die nicht auch die Chance bekommen, zum System beizutragen, wie damals deine Großmutter? Muss sie dort bleiben, wo sie ist, und auf ein Zelt warten, das Herr Nehammer höchst persönlich eingeflogen hat? War wohl heiß bei seiner Ankunft. Entweder vom Nachglühen des Feuers oder einfach wegen dem Mediterranen Klima. Denn die Hemdsärmel hat er sicher nicht hochkrempeln müssen, weil er angepackt hat.

Als du dich erstmals bei der Partei engagiert hast, meinte deine Mama: „Wenn er keinen anderen Blödsinn macht, dann soll er halt das tun.“ So wird sie von Herrn Ronzheimer im Buch „Sebastian Kurz: Die Biografie“ zitiert. Ob sie das immer noch denkt, die Mama, bei dem Blödsinn, den du grad machst? Sie verfolgt das christlich soziale Gedankengut wohl etwas aktiver als du, hat sie doch selbst Flüchtlinge aufgenommen, damals, als du erst 6 Jahre alt warst. Hast gespielt mit den Mädchen, dein Vater hat aufgepasst, dass ihr drei beim Baden nicht ertrinkt. Menschen wie deinen Vater könnten manche Kinder in Griechenland auch an ihrer Seite brauchen. Menschen, die aufpassen, dass sie nicht ertrinken. Im Meer. Oder im Camp.

Du sagst, du magst schon ein buntes Österreich, magst Menschen, die einen Beitrag leisten. „Aber das darf man nicht mit Massenmigration aus Afghanistan, Syrien und Irak verwechseln. Aus diesen Ländern kommen Menschen, die oft schlecht oder gar nicht ausgebildet sind, manche nicht einmal alphabetisiert. Das ist nicht zum wirtschaftlichen Vorteil des Landes“, sagst im Interview mit dem Handelsblatt im September 2020. Klingst schon fast, wie Herr Trump mit seinem „America first“, in deinem Fall ist es „economy first“. Wie wärs mit „humanity first and foremost“? Nennen sie dich den Messias, weil du über Leben und Tod bestimmst? Diese Frage, lieber Basti, geb ich dir als gute Beraterin mit auf den Weg. Zur Selbstreflexion.

Zitate aus:
Sebastian Kurz: Die Biografie, Paul Ronzheimer
Interview mit Sebastian Kurz im Handelsblatt von 5.9.2020

Schreib einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert