“Lass das Licht noch aus”, meinte ihre Freundin beim Ankommen, grinsend. Da die anbrechende Dunkelheit nicht der Atmosphäre sondern dem nicht-unbedingt-Gesehen-Werden dienen sollte, fand sie das nicht so ganz lustig. Es widerstrebt ihr, wenn man ihr sagt, was sie tun kann und darf und was nicht. Nicht die Bitte der Freundin, den Lichtschalter noch nicht zu betätigen, sondern die Anweisungen kurzer Männer machen sie unrund. Ein Treffen mit drei Freund*innen an einem großen Tisch, am Tag bevor man wieder „darf“ – muss das bei Einbruch der Dunkelheit und ohne Licht stattfinden? Um nicht gesehen, entdeckt, ertappt zu werden?
„Du bist halt ein Freigeist“, hört sie dann. Ist man ein Freigeist, wenn man das Gefühl hat, Eigenverantwortung zu besitzen, diese aber nicht einsetzen zu dürfen? Ist man ein Freigeist, wenn man selbst entscheiden möchte, wen man wann sieht? Und doch ließ sich diese Freigeistin sagen, was sie zu tun hat. Fühlte sich beobachtet von allen und jedem. Fühlte, dass sie normalerweise normale Dinge rechtfertigen sollte.
Zu Beginn halfen die klaren Ansagen der Regierung: es gibt nur drei Gründe, das Haus zu verlassen:
1. arbeiten – wenn es denn sein muss. Ansonsten bezahlt die Regierung den Arbeitgeber und der dich.
2. einkaufen – wenn es denn sein muss. Aber immer mehr Geschäfte haben einen Lieferservice.
3. Risikogruppen zu unterstützen in dieser Zeit – ja, auch das nur, wenn es denn sein muss.
Dann kam Nummer 4. Die „nimm drei Regeln, dann bekommst du eine gratis“ Regel: „meinetwegen“, konnte man zwischen den Zeilen lesen, „meinetwegen“ geht ihr halt auch noch an die frische Luft, wenn es denn sein muss.
Dann kam Ostern und die Ausnahmeregelung: Wenn man direkt verwandt ist und nebeneinander wohnt und die Balkontüren direkt vis-a-vis sind und man sich gegenseitig ins Wohnzimmer schauen kann, dann darf man das auch tun. Sich ins Wohnzimmer schauen. Jeder im eigenen Haus, versteht sich. Und so darf man miteinander Ostern feiern. Sollte die Sonne scheinen, dann darf man das bei offenen Balkontüren tun, solange man damals, beim Bauen, die Abstandsnachsicht eingehalten hat.
Nach zwei-minütigem Bestehen wurde sie auch schon wieder als nichtig erklärt, die österliche Ausnahmeregelung. Weil doch nicht ganz so sauber. Und niemand kannte sich aus. Im Nachhinein ist alles klar, laut Ansagern. Weil vieles nie gesagt worden war, nie verboten, nie genau so formuliert. Eben nur genau so formuliert, dass jeder dachte, dass man nichts darf. Außer 3 plus 1, was fast wie ein Angebot im Supermarkt klingt. Kauf drei, das Vierte ist gratis.
„3 plus 1“ ist (im Moment) Geschichte. Viele Tage nach dem 1.Mai, der alles neu machen sollte, wartet sie noch immer auf Regel Nummer 5, die die „3 plus 1“ ersetzt: umarmt eure (engsten) Freunde, weil es allen gut tut – dem Gesellschaftsklima und den (Frei)Geistern.