Der Ernst des Lebens

Beim Valet wurde ein Vorzeigeschüler hervorgehoben. Ein Schüler, nennen wir ihn Ernst, dessen Zeugnis wie eine Strichliste aussieht, weil nur Einser vorzufinden sind. Man müsste lange suchen, um in seiner 12-jährigen Schulkarriere eine andere Note zu finden. Er ist klug, sehr klug. Lernen ist sein Hobby. Ernst liest Wissensbücher, wenn andere zum Training gehen, er geht auf Latein-Olympiaden, wenn andere beim Fußballturnier sind. Er trainiert den größten Muskel, sein Hirn, regelmäßig und freiwillig und weil es ihm Spaß macht. Wenn ein Hirn einen Six-Pack haben könnte, dann hätte sein Hirn einen wohl-geformten Hirn-Six-Pack.

Hervorgehoben wurde Ernst aber nicht für die Strichliste oder den Hirn-Six-Pack, sondern für sein Mensch-Sein. Von der Direktorin, vom Klassenvorstand, von den Mitschüler*innen. Alle sahen das Besondere in Ernst. Seine schulische Leistung wurde erwähnt, aber die Betonung lag auf etwas anderem. Die Direktorin freute sich darüber, dass er die Schule so wunderbar vertreten hat. Immer und immer wieder. Sein Dabeisein, sein Einsatz im Namen der Schule, sein Interesse und breitgefächertes Wissen sind nicht alltäglich. Der Klassenvorstand freute sich, ein Gegenüber zu haben, mit dem er sich so lebendig über die tote Sprache austauschen konnte. Seine Klassenkamerad*innen schätzten das selbstlose Teilen seines Wissens. Er initiierte Lerngruppen, obwohl er selbst rein akademisch nichts davon hatte. Er tat es, um den anderen zu helfen, beantwortete unermüdlich die endlosen Fragen der Mitschüler*innen. Immer und ganz besonders in der Vorbereitung auf die Matura. Er selbst hätte wahrscheinlich ohne zusätzliches Lernen zur Matura antreten können und trotzdem einen weiteren Strich auf der Liste bekommen. Durch die Lerngruppen half er dem einen oder der anderen, diese Reifeprüfung zu bestehen. Er wurde geehrt –  als Gegenüber, als Kamerad, als Freund, als Mensch, als Ernst. In dem Moment zählten nicht seine Noten, sondern seine soziale Ader.

Die schulischen Leistungen der Schüler*innen, die in diesen Wochen ein Zeugnis nach Hause bringen, glänzen bestimmt nicht alle so wie die von Ernst. Aber auch ihnen würde man wünschen, dass ihr Umfeld den Rest sieht. Das, was sie wirklich ausmacht. Die Dinge, die in Zeugnissen nicht festgehalten werden. Auch und vor allem in diesem Jahr, in dem sie so viel mehr Zeit zu Hause mit ihren Familien verbringen durften ( mussten?) und nicht in die Schule „flüchten“ konnten. In diesem Jahr, in dem anscheinend in der Schule allen alles geschenkt wurde. In diesem Jahr, in dem junge Menschen mehr Selbstständigkeit und Flexibilität zeigen mussten, als viele ihnen zugetraut hätten. Auch das wurde beim Valet hervorgehoben – wie die jungem Menschen gerade in dieser Zeit gewachsen sind. Noten braucht es (hierfür) keine, aber offene Augen für Dinge, die man nicht beziffern kann, Dinge, die im Leben schlussendlich zählen.

Am Ende der Sommerferien sagen die Großeltern dann wieder, vor allem zu Erstklässlern: „Jetzt beginnt der Ernst des Lebens.“ Ist nun der Ernst des Lebens vorbei für die Schüler*innen, die bei diesem Valet verabschiedet wurden? Was passiert, nachdem man durch ein Blatt Papier als „reif“ betitelt wurde? Jetzt haben sie vorerst Ferien und Ernst, der sich auch in den Ferien in Büchern vertiefen wird, darf stolz sein, dass er als Mensch ausgezeichnet wurde. Ganz ohne Noten, dafür mit viel Respekt.

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