Routine steht ihr nicht. Sie macht kein Projekt zweimal, jede Geburtstagskarte, die sie zaubert, sieht anders aus. Sie ist kein Gewohnheitsmensch, sie mag immer wieder neue Dinge erfinden und umsetzen, neue Menschen treffen, neue Wege gehen. Aber seit, naja, eben seit, spaziert sie wiederholt die gleiche Runde. Aber seit, naja, eben seit erdet sie die Routine des die-gleiche-Runde-Drehens, die Routine dieses einen Weges. Diese Routine, diese eine Runde wurde jedes Mal durch etwas Schönes, etwas Berührendes, etwas, das ein Lachen, Staunen oder Tränen hervorgerufen hat, unterbrochen. Jedes Mal an einer anderen Stelle, an einer anderen Weggabelung, bei einer anderen Brücke.
Ganz bewusst macht sie sich allein auf den Weg – das ist im Moment die einzige Stunde am Tag, in der sie wirklich alleine ist. Ohne Kinder, ohne Katze, ohne Computer, ohne Telefonate, ohne Arbeit. Sie mag ihre Kinder, sie mag Menschen, sie mag ihre Arbeit. Die Katze ist auch OK. Aber diese eine Stunde allein ist wichtig, ist ihr wichtig, tut ihr gut. Dieser Weg wurde inzwischen zur fast täglichen Routine, die Uhrzeit des Gehens ist aber nicht routiniert. Der Zeitpunkt des Anziehens der Turnschuhe, des Einsteckens der Kopfhörer, des Aussuchens des Podcasts oder der Musik wird davon determiniert, wann der Kopf Luft braucht, wie dick die Luft zu Hause ist, was an dem Tag noch ansteht. Podcasts und Musik sind die einzigen zwei Begleiter, die sie mit auf den Weg nimmt.
Nur einmal, da nimmt sie einen Freund mit, in ihrem Ohr. Er wohnt in einer Großstadtwohnung mit seiner Familie. Kein Balkon, alle Parks geschlossen. Sie nimmt ihn mit auf ihren Spaziergang in die Natur. Sie bringen einander auf den neuesten Stand bzgl Gemütslage, Schulaufgaben und Liebesleben. Er redet trotz Leben auf engstem Raum noch mit seiner Frau – ein Erfolg! Bei ihr hat noch kein Prinz einfach so an die Tür geklopft – kein Erfolg! Ist wohl auch eingesperrt, der Herr Prinz. Das Gespräch führt über Alltägliches, zur Arbeit, hin zum „bis zum nächsten Mal“ Sagen. Sie geht beflügelt weiter – es war schön, mit ihrem alten Freund ein Stück des Weges zu gehen.
An einem anderen Tag, einem Wochenend-Tag, an dem sie schon beim Aufwachen schlechte Laune hatte, begleitet sie ein Podcast. Eine alte Geschichte sitzt ihr in den Knochen, sie verspürte gleich nach dem Morgenkaffee das Bedürfnis, an die frische Luft zu gehen, es sich aus den Knochen zu spazieren. Und tatsächlich, nach ca 20 Minuten muss sie grinsen. Das Thema des Podcasts: „Was möchtest du als Erstes tun, wenn du wieder darfst?“ Während sein Sohn sich einfach wieder mal mit seinen Freunden treffen möchte, freut sich der Podcaster auf ausgedehnten Sex mit seiner Frau. Was für ein schöner Wunsch! Einfach Zeit haben, sich Zeit nehmen. Der darauf folgende Austausch zwischen dem Podcaster und seiner Gesprächspartnerin resultiert in einem lauten Lacher. Mission accomplished, alte Geschichte aus den Knochen gelacht (für heute zumindest).
Ihre Freundin schreibt ihr: „Der Mann hat gesagt, dass er dich gesehen hat. Auf die Frage, worüber ihr denn geredet habt, meinte er: ich rede doch nicht mit den Leuten“
Sie antwortet: „Die Stunde, die Runde, die gehört mir ganz allein. Da rede ich auch mit niemandem.“
Sie mögen sich, reden gern miteinander, „der Mann“ und sie. An diesem Tag sahen beide die Notwendigkeit eines Gesprächs als nicht gegeben. Ein herzliches Zunicken genügte. Und wieder eine Begegnung, die die Routine durchbrochen hat, ganz ohne Worte.
In den letzten zwei Tagen hat sie viel mit A kommuniziert. Sie will eine neue Homepage aufbauen, A unterstützt sie dabei. Email umleiten, Domain hosten, Content füllen…. das waren ihre Themen, nun kommt er ihr mit dem Fahrrad entgegen. Es freut sie, ihm zu begegnen, denn nun kann sie ihm persönlich für seine Hilfe danken, nicht nur per Daumen hoch oder Smiley auf whatsapp. Ein in die Augen Schauen und Danke Sagen – das ist viel schöner, bedeutet mehr.
Eines Tages glaubt sie, dass sie die Runde ganz alleine schafft, ohne mit jemandem reden zu „müssen“, ohne einen Menschen zu sehen. Sie hat schon ¾ der Strecke hinter sich, da sieht sie einen Mann vor einer alten Hütte in der Sonne sitzen. Sie erkennt ihm, den Bänkchen-Sitzer, beim Näherkommen. Ihr Onkel, 80 Jahre alt, Bier in der Hand, das Leben genießend. Natürlich bleibt sie stehen und vergisst sofort ihr Verlangen nach dem Allein-Sein. sie mag ihren Onkel sehr. Bei jeder Begegnung mit ihm nimmt sie eine Geschichte mit, eine Anekdote aus seinem einfachen und einfach zufriedenen Leben. Schon oft hat sie sich später beim Teilen seiner Geschichten ertappt.
Zweimal begegnet sie ihm auf der Runde, beides Mal am gleichen Fleck, auf der gleichen Bank. Beim zweiten Mal ist er nicht allein. Sein Kollege sitzt neben ihm. Abstand wird keiner eingehalten, kein Blatt kann man zwischen die zwei schieben, was ihrem Körperbau und der Größe der Bank geschuldet ist. „Wir haben schon genug Jahre hinter uns, wir haben schon lang gelebt.“ Auf die Erklärung, wer die junge Spaziergängerin ist, meint der Kollege zum Onkel: „Schöne Mädchen hat er gemacht, dein Bruder.“ Mit einem Lächeln im Gesicht, die Stöpsel wieder in den Ohren geht es weiter auf dem routinierten Weg, der wieder mal – durch einen frechen Kommentar – anders ist als sonst.
Es gibt auch Tage, an denen sie sich vorsichtig umschaut, ob sie eh niemand sieht, ob sie niemand erkennt, ob niemand zuschaut, wie sie sich die Tränen aus dem Gesicht wischt. Tage, an denen sie alte, noch nicht ganz verdaute Geschichten einholen oder an denen sie die nicht ganz klar definierten Anforderungen des Home Schoolings etwas näher an sich heran lässt, als das gut für sie ist. Wenn dann das „falsche“ (oder das richtige?) Lied in ihre Ohren fließt kann es sein, dass die Tränen schon beim ersten Akkord kullern. Und sie lässt sie kullern, weil es wichtig ist und die Routine bricht.
Sie erkennt sie aus der Ferne schon, ihre Nachbarn H & F. Ein Paar, das im Duden als Definition des Wortes „entzückend“ stehen könnte. Mit über 70 Jahren tänzelt H um F herum, ist seine Frau, seine Muse, seine Seelenverwandte. Diesem Schauspiel zuschauen zu dürfen ist ein Geschenk, das sie schon einmal bei ihnen zu Hause und nun draußen in der Natur erleben darf. Sie grüßt, tauscht eine kurze Nettigkeit mit ihnen aus und überholt das Paar, das gerade mit den Fahrrädern auf einer Brücke Halt gemacht hat. Sie schauen und staunen. Über nichts und alles. Sie überholt die beiden Radfahrer und freut sich, dass es solche entzückenden Paare gibt.
Nach der Brücke kommt die längste Gerade dieser Route. Hier sieht sie zuerst einen, dann zwei, dann viele. Viele Störche. Obwohl sie hier schon oft gegangen ist, hat sie in diesem Teil des Riedes noch nie Störche gesehen. Ein Krafttier, das Neues verspricht. Daran hält sie sich für den Rest des Weges, den Rest des Abends und die folgenden Tage fest. Trotz der Geborgenheit, die sie in dieser Routine verspürt, sehnt sie sich nach Neuem.
Nun ist sie wirklich schon so gut wie zu Hause. Nur noch 10 Minuten. Da überholt sie ein Auto, der Fahrer winkt. Ein Freund, den sie lange nicht gesehen hat. Ein Freund, den sie gern wieder einmal umarmen möchte. Ein Freund, dessen einfaches Winken durch das Heben seiner Hand sie berührt. 10 Minuten vor dem Ziel.
Die immer gleiche Runde, aus der Routine geworfen durch Begegnungen mit dem Onkel und seinem Freund, A., dem Storch, H & F, dem noch zu umarmenden Freund, dem Freund im Ohr. Die Stunde, die nur ihr gehört, doch nicht alleine verbracht.
Wunderschöner Text – vielen Dank! 🙂