1, 2 oder 3? Oder 4? Oder 5? Oder gar nichts von all dem?

Können wir Erwachsenen alles SEHR GUT? Ist es nicht gut genug, wenn wir alles befriedigend können und in den Bereichen, die uns besonders liegen, gut oder gar sehr gut sind? Manchmal sogar ausgezeichnet?

Mir reicht es, dass ich genügend gut bügeln kann. Flecken aus Kleidung entfernen – nicht genügend. Kochen – gut, bestimmte Gerichte sehr gut, niemals ausgezeichnet. „Nusstorte Annelies“ – kann ich sehr gut backen. Da ich mich gerne mit Freund*innen zum Kaffee treffe ist es förderlich, dass ich beim Backen besser als beim Flecken entfernen bin. Meine Mama wiederum ist die Königin aller Fleckenentfernerinnen. Ich würde ihr ein „sehr gut“ geben. Die Schmutzwäsche mit den hartnäckigen Flecken geht also zu ihr. Sie wiederum gibt mir den Auftrag, ihre Karten zu entwerfen, die sie zu Weihnachten an Freunde und Familie schickt. Sie kann das sehr wohl befriedigend gut, mag aber meinen „Touch“ und findet, dass ihre Karten dann zum SEHR GUT avancieren. Und so ist es im Leben. Wir arbeiten miteinander und haben die Wahl: Will ich besser bügeln lernen oder hole ich mir Hilfe? Will ich mit jemandem meine Fähigkeiten teilen oder sitze ich ganz alleine mit „Nusstorte Annelies“ am Esstisch bis mir schlecht wird?

Mein Vater glänzte in der Schule auch nicht immer. Jetzt interessiert er sich aber sehr für die Noten der Kindeskinder. “Hattet ihr in letzter Zeit eine Schularbeit? Was hattest du für Noten? Für jeden Einser bekommst du 10€!”, wird die Enkelin von Opa begrüßt. Die Teenagerin antwortet nur mit einem altersentsprechenden Grunzen: “Mann, Opa….“, das bringt sie gerade noch über die Lippen. Am Schulschluss ist es dasselbe. Opa, der selbst immer erzählt, dass er die Handelsschule mit einem 4er in Schriftverkehr und einem 4er in Mathe abgeschlossen hat, möchte seine Enkel monetarisch für ihre Schulleistung belohnen. „Wie viele 1er hast du im Zeugnis?“, fragt er, während er gleichzeitig gerne seine Schulgeschichte erzählt. Die Geschichte von seinen zwei 4ern, und wie er dann einen guten Job bekommen hat, weil seinem Chef die Noten egal waren, weil sein Chef an ihn geglaubt hat.

„Opa fragt mich nie, wie es mir geht. Er will immer nur wissen, was ich für Noten habe.“, beschwert sich besagte Teenagerin bei mir. Ich höre sie, sie will sich nicht mit Zahlen von 1-5 definieren. Dabei ist sie sehr gut in der Schule und könnte Opa ausnehmen. Sie verweigert aber die Auskunft – und das trotz notirischer Geldnot.

Als mein Zweitgeborener in die Volksschule kommt wird beim ersten Elternabend abgestimmt, ob wir Eltern ein Zeugnis mit Ziffernnoten oder eines mit schriftlicher Beurteilung möchten, einen Schulbericht also. Die Abstimmung verläuft einstimmig. In dieser Klasse möchte kein Elternteil Noten. Es wäre auch OK, wenn jemand das wollte. Denn jeder darf seine Meinung äußern, jeder darf das vorbringen, was in seinen/ihren Augen für das eigene Kind am besten ist. Für mich war die Entscheidung einfach. Jetzt kommt wieder der Opa ins Spiel. Die Enkelin bekommt ein „normales“ Zeugnis, der Enkel einen Schulbericht. Beide gehen in die gleiche Schulstufe. „Was soll ich jetzt tun?“, fragt er überfordert, „wie viel Geld soll ich ihm geben? Er hat ja keine Noten!“ „Lies, was im Bericht über deinen Enkel steht. Frag ihn, wie es ihm in der Schule geht, was er gut kann, was er noch lernen möchte. Das sagt mehr aus, als alles andere.“ Opa gehorcht und vergütet dann Zeugnis und Schulbericht in gleicher Höhe.

Meinen Kindern möchte ich mit auf den Weg geben, dass es im Leben unterschiedliche Lösungswege gibt, dass man sich für und gegen Dinge entscheiden kann. Dass man mit anderen über diese verschiedenen Wege reden, sich informieren, ein Bild machen und dann eine Entscheidung treffen kann. Möglichkeiten aufzeigen und kreieren, nicht vorgegebene starre Strukturen akzeptieren.

Im W*ORT sind wir in der glücklichen Situation, dass wir weder Rotstifte verwenden noch Zeugnisse schreiben müssen. Was wir aber tun ist die Kinder dabei zu unterstützen, zu mündigen Erwachsenen heranzuwachsen. 

Lasst uns für Wahlfreiheit stimmen. Lasst uns nicht vorgeschrieben bekommen, dass wir Noten geben MÜSSEN. Lasst uns bestimmen können, ob wir Noten geben wollen.

veröffentlicht Jänner 2020 auf www.w-ort.at